Seedorf exklusiv über den VfB, Musiala und Rassismus
Clarence Seedorf hat es als einziger Spieler in der Geschichte der Champions League geschafft, den Titel mit drei verschiedenen Klubs zu gewinnen. sport.de traf den Niederländer in Stuttgart im Rahmen einer ganz besonderen Veranstaltung zum exklusiven Interview.
Die Host City Stuttgart setzte am Montag ein Zeichen für Diversität sowie gegen Diskriminierung und Rassismus. In einem prominent besetzten Podiums-Talk unter dem Motto "Vielfalt vereint!?" diskutierten unter anderem Philipp Lahm als Turnierdirektor der UEFA EURO 2024, der VfB-Vorstandsvorsitzende Alexander Wehrle und Ex-Bundesliga-Profi Hans Sarpei über die Chancen, die mit der Heim-EM im nächsten Jahr verbunden sind.
Zuvor hielt Clarence Seedorf als globaler UEFA-Botschafter für Vielfalt und Wandel eine eindrückliche Rede über seinen persönlichen Einsatz im Kampf für Gleichberechtigung. Im exklusiven Interview mit sport.de erzählt der 47-Jährige von seinen Schwierigkeiten, als schwarzer Trainer im Fußballgeschäft Fuß zu fassen, erklärt, was er sich für die Zukunft wünscht und gibt zudem Einblick in Vorkommnisse während seiner eigenen aktiven Spieler-Karriere.
Herr Seedorf, Sie sind zu Gast in Stuttgart, stimmt es, dass der VfB zu den deutschen Klubs gehörte, die für Sie in Ihrer Spielerkarriere interessant gewesen wären?
Clarence Seedorf: (lacht) Ja, das stimmt. Stuttgart war in den 90er-Jahren ein großer Klub, eine große Mannschaft. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass in Stuttgart früher immer eines der besten Jugend-Turniere in Europa ausgetragen wurde. Da waren alle Top-Mannschaften dabei, Real, Barcelona, Ajax und viele mehr.
Der VfB ist und bleibt ein Verein mit einer unglaublichen Geschichte. Ich weiß, dass sich die Zeiten geändert haben und dass der Klub schwierige Zeiten durchleben musste, umso mehr freue ich mich, dass es jetzt wieder stark bergauf geht. Es scheint von außen betrachtet so, dass das richtige Management am Werk ist. Wenn das der Fall ist, ist das die halbe Miete, um wieder in die Spur zu finden. Ich werde sie weiter verfolgen.
Mit Chris Führich hat der VfB sogar wieder einen deutschen Nationalspieler. Sie sind hier für eine Veranstaltung, die sich um die EM im nächsten Jahr dreht. Deutschland hat drei schlechte Turniere in Folge hinter sich, wie schätzen Sie das DFB-Team ein?
Ich sehe es nicht so negativ. Deutschland zählt für mich bei jedem Turnier zu den Titelkandidaten, auch 2024 bei der EM, diesen Respekt hat sich Deutschland einfach verdient. Selbst bei der WM in Katar hätte das Turnier vielleicht einen ganz anderen Verlauf genommen, wenn Deutschland mit ein bisschen Glück die Vorrunde überstanden hätte.
Aber unabhängig davon solltet Ihr Euch als Deutsche nicht beschweren. Andere Länder hätten gerne Eure Probleme (lacht). Der Fußball spielt sich in Zyklen ab. Es ist völlig normal, dass auch mal eine Phase kommt, in der sich alles erneuern muss und man nicht ganz oben dabei ist. Das muss man dann auch mal akzeptieren. Es ist nicht leicht, eine Heim-EM zu spielen, aber dennoch erwarte ich ein sehr starkes deutsches Team. Entscheidend wird sein, ob es dem Trainer gelingt, eine besondere Chemie zu kreieren. Du musst es als Trainer schaffen, im gesamten Staff eine besondere Stimmung und Dynamik entstehen zu lassen. Das gelingt nicht immer, aber ich hoffe für Deutschland, dass das im nächsten Jahr passiert.
Was ist aus Ihrer eigenen Trainerkarriere geworden? Zuletzt waren Sie Nationaltrainer von Kamerun, aber das ist jetzt auch schon über vier Jahre her.
Wer mich anrufen will, hat meine Nummer … Die Wahrheit ist, dass nicht viele Anrufe kommen. Schauen Sie sich an, wie wenige schwarze Coaches es in den europäischen Topligen gibt. Größen wie Thierry Henry oder Patrick Vieira hatten auch Schwierigkeiten, Angebote zu bekommen. Als ich Milan übernommen habe, stand das Team nahe am Abgrund. Als ich entlassen wurde, waren wir auf Rang sieben, einen Punkt hinter den europäischen Plätzen. Die Trainer, die in den fünf Jahren nach mir kamen, hatten alle eine schlechtere Bilanz als ich. Aber als sie gefeuert wurden, hatten sie sofort wieder neue Job-Angebote. Wissen Sie, wie viele Vorstellungsgespräche ich in den zwei Jahren nach Ende der Milan-Zeit hatte?
So wie Sie es erzählen offenbar nicht sehr viele.
Es war genau eines. Ich war echt schockiert damals. Ich dachte, dass es leicht sein würde für mich, eine Trainerkarriere einzuschlagen. Ich habe eine ganz gute Karriere als Spieler vorzuweisen, ich habe die Trainerausbildung abgeschlossen, ich habe alles gemacht und dachte, dass es gut laufen wird für mich. Ich musste aber leider feststellen, dass es gar nicht um Qualität geht. Das Problem ist das ganze System.
Weit über 90 Prozent der Führungskräfte im Fußball, die Entscheidungen treffen, sind weiße Männer. In der NFL gibt es dagegen die sogenannte Rooney-Regel, die sicherstellen soll, dass Minderheiten leichter in die Coaching-Jobs kommen.
Das funktioniert aber auch nur bedingt, wenn man die NFL genauer beobachtet.
Es ist nicht perfekt, trotzdem war es definitiv ein Fortschritt. Es muss sich definitiv etwas verändern im Fußball.
Wo stehen wir im Jahr 2023 im Kampf gegen Rassismus Ihrer Meinung nach?
Wir machen Fortschritte, aber es ist nicht genug. Wir gehen zwei Schritte vorwärts, dann wieder einen Schritt zurück. Ich würde es auch nicht 'Kampf gegen Rassismus' nennen, das gefällt mir nicht. Ich kann es ehrlich gesagt nicht mehr hören. Ich kämpfe nicht gegen Rassismus. Was soll das überhaupt bedeuten? Ich kämpfe für Gleichberechtigung, für Inklusion. Wenn wir eine Welt kreieren, in der jeder dazugehört, geht der Rassismus automatisch zurück. Ich bin optimistisch, dass uns das gelingen kann, weil ich an den Menschen glaube. Die Entscheidungsträger im Fußball sind ja nicht per se alle schlechte Menschen.
Es geht darum, dass wir dem Kampf für Gleichberechtigung eine höhere Bedeutung geben und ihn wirklich zu unserer Sache machen. Menschen, die gar keine Rassisten sind, die aber daneben sitzen, müssen die Stimme erheben. Schweigen ist keine Option. Mein Eindruck ist, dass wir das immer öfter auch sehen, deshalb bin ich positiv gestimmt, dass wir eine wirkliche Veränderung hinbekommen können.
Seedorf: Das ist mein Lieblinsspieler im DFB-Team
Früher haben Sie Pokale in die Höhe gereckt, jetzt halten Sie Vorträge. Was bedeutet heute Erfolg für Sie?
Ehrlich gesagt hat sich gar nicht so viel für mich geändert. Für mich ging es im Leben schon immer darum, eine Wirkung zu haben. Ich habe es als Spieler genossen, Teil eines Teams zu sein und etwas zusammen aufzubauen. Dass am Ende Titel dabei herausgekommen sind und ich eine erfolgreiche Karriere hatte, macht mich stolz. Für mich ist es aber ein genauso großer Erfolg, wenn ich heute Abend meine Rede halte und ich damit einige Leute im Raum berühre. Vielleicht sitzen dort Entscheidungsträger in Firmen und ich kann etwas zum Positiven verändern, das hätte eine Wirkung und darum geht es mir.
Wir waren vorhin bei der EM und der deutschen Nationalmannschaft. Haben Sie einen deutschen Lieblingsspieler im Moment?
Ich muss zugeben, dass ich Jamal Musiala erst bei der letzten WM zum ersten Mal so richtig gesehen habe und ich dachte mir nur: Wow, was für ein unfassbares Talent. Mir macht es einfach Spaß, solchen Jungs mit einer solchen Qualität zuzuschauen. Ich will jetzt aber auch nicht zu sehr die Deutschen loben, wir sind immer noch Rivalen (lacht).
Ich war letztens im Stadion, als Frankreich und die Niederlande aufeinander getroffen sind. Ich mag es einfach, wenn sich die großen Nationen messen und diese besondere Spannung in der Luft liegt.
Ist Frankreich auch für Sie der Topfavorit?
Nein, nicht mehr. Vor der WM hätte ich noch gesagt, dass die Franzosen eine Stufe über dem Rest stehen, aber jetzt sehe ich einige Mannschaften auf dem gleichen Niveau. Mir gefällt sehr, was England für ein Team aufgebaut hat. Sie haben genau die richtige Mischung aus Erfahrung und hervorragenden jungen Spielern. Ich habe auch Portugal auf der Rechnung, jeder denkt immer noch sofort an Cristiano Ronaldo, aber sie haben eine extrem interessante Mannschaft mit vielen jungen aufregenden Spielern.
Und was ist mit den Niederlanden?
Wir bauen gerade wieder etwas auf. Ich habe großes Vertrauen in Ronald Koeman, dass er uns wieder nach vorne bringen wird, wenn wir ihm die nötige Zeit geben. Es ist nicht leicht für ihn. Louis van Gaal hatte seine ganz eigenen Vorstellungen, jetzt muss Koeman wieder alles verändern und seine Vision implementieren. Aber ich sehe eine gute Entwicklung. Das Team hat einen starken Zusammenhalt, Koeman stellt die besten Spieler auf, das war auch nicht immer der Fall bei uns.
Wir haben wie immer viele talentierte Spieler, aber zu viele junge Spieler bringen dich auch nicht weiter. Du brauchst auch alte Haudegen in der Mannschaft, die das Team führen und die sich auch ins Feuer stellen und die Jüngeren schützen, wenn es nicht so läuft. Jemand wie Thomas Müller bei den Deutschen ist so unglaublich wichtig für ein Team, vor allem in der Kabine, dafür muss er nicht mal unbedingt von Anfang an auf dem Feld stehen.
Seedorf: Daten-Fokus nimmt Überhand im Fußball
Wenn wir bei den Niederlanden sind, muss ich Sie auch nach Ihrem kriselnden Ex-Klub Ajax fragen. Wie hart ist es für Sie, zu verfolgen, was dort in dieser Saison passiert?
Ich habe keine Ahnung, was dort alles abgeht und schiefläuft, ich weiß aber eines: Manchmal musst du im Leben ganz unten ankommen, um aufzuwachen und die richtigen Entscheidungen zu treffen. Das macht dich wieder demütig und tut dir auch mal ganz gut. Ajax wird sich wieder berappeln, da bin ich sicher.
Ajax ist in dieser Saison auch nicht Teil der Champions League. Wen sehen Sie dort am Ende der Saison ganz vorne?
Man muss sicher Manchester City als Titelverteidiger zuerst nennen, aber ich glaube, dass einige Teams das Zeug haben, City zu schlagen. Bayern muss man immer auf dem Zettel haben, da geht es einfach nur darum, ob sie es in den entscheidenden Spielen auf den Platz bringen, in der letzten Saison hätte ich gegen City mehr von ihnen erwartet. PSG hat die Qualität, muss sich aber steigern. Und dann gibt es natürlich vor allem noch Real Madrid mit meinem ehemaligen Trainer Carlo Ancelotti. Acht Jahre habe ich unter ihm gespielt.
Was zeichnet Carlo Ancelotti Ihrer Meinung nach aus?
Ancelotti hat sich unglaublich weiterentwickelt. Ich kann mich an den Trainerstab bei Milan erinnern, zusammen waren die Coaches 500 Jahre alt zu einem gewissen Zeitpunkt. Bei Real Madrid sind es zusammen nur 200 Jahre, kein Assistent ist älter als 40. Das zeigt, wie Ancelotti bereit ist, mit der Zeit zu gehen und dass er immer darüber nachdenkt, wie er sich anpassen kann.
Dabei ist er ein unglaublich loyaler Mann. Es ist ihm sicher nicht immer leicht gefallen, neue Wege zu gehen und verdiente Mitarbeiter zu verlieren, aber es gebührt ihm ein großer Respekt dafür, wie er das gemacht hat. Er ist ein fantastischer Trainer.
Letzte Frage: Wie hat sich der Fußball verändert im Vergleich zu der Zeit, als Sie selbst noch gespielt haben?
Zwei große Dinge fallen mir sofort ein. Zum einen gibt es eine viel größere Ablenkung als früher durch den Faktor Social Media. In gewisser Weise ist das auch eine gute Sache, weil die Spieler heutzutage sich viel bewusster darüber sind, welchen Wert sie haben, als wir das früher waren. Leider führt es aber auch dazu, dass ich den Eindruck habe, dass nicht mehr so viele Spieler Fußball spielen, um eine große Karriere hinzulegen, sondern eher dem Ruf des Geldes folgen. Da würde ich mir wünschen, dass man es besser kombiniert.
Und zum zweiten würde ich den Einzug der Bedeutung von Daten im Fußball nennen. Nicht falsch verstehen, ich bin ein großer Fan von modernen Technologien, ich halte auch Daten als unterstützendes Tool für extrem wichtig. Ich habe aber das Gefühl, dass im Fußball inzwischen viele Entscheidungen ausschließlich auf Basis von Daten getroffen werden. Das halte ich für eine gefährliche Entwicklung. Dadurch gehen viele Talente verloren. Du kannst nicht alles rein nach Daten bewerten, das ist nicht gut für den Fußball.
Das Gespräch führte Florian Regelmann