30.07.1966 03:00 Uhr

»Wembley-Tor« entscheidet das WM-Finale

London – 96.924 Zuschauer im Wembleystadion sind Zeuge des denkwürdigen Endspiels zwischen England und Deutschland. Nach 120 dramatischen Spielminuten und einem bis heute umstrittenen Tor siegt das »Fußball-Mutterland« 4:2 und holt sich zum ersten Mal den Weltmeistertitel.
Vor den Augen der britischen Königin Elisabeth II. und des »Box-Königs« Muhammad Ali geht Deutschland in einem »kämpferisch großartigen Spiel« (Hennes Weisweiler) in der 12. Minute durch einen Treffer von Helmut Haller überraschend in Führung. Zum ersten Mal in diesem Turnier wird die englische Abwehr aus dem Spiel heraus überwunden. Das einzige Gegentor kassierte Keeper Gordon Banks durch einen vom Portugiesen Eusebio getretenen Elfmeter.
Doch die Freude der deutschen Anhänger währt nur fünf Minuten. Im Anschluss an einen Freistoß von Bobby Moore nutzt Geoffrey Hurst eine Unachtsamkeit in der deutschen Abwehr per Kopf zum Ausgleich.
Nach dem Wiederanpfiff verschärfen die Engländer das Tempo, müssen sich aber bis zur 78. Minute gedulden, ehe ihnen ein Patzer von Horst-Dieter Höttges die Führung ermöglicht. Nach einem Eckball fabriziert der Bremer eine »Kerze«, der Ball fällt Martin Peters vor die Füße, der aus kurzer Distanz keine Mühe hat, Torhüter Hans Tilkowski zu bezwingen.
In den letzten zwölf Minuten wollen die Engländer das Spiel über die Zeit retten. Doch die Elf von Helmut Schön gibt sich noch nicht geschlagen. Lohn der Mühe ist der kaum mehr erwartete Ausgleich durch den Kölner Verteidiger Wolfgang Weber in der letzten Spielminute.
Zum zweiten Mal nach 1934 geht ein WM-Finale in die Verlängerung. Die Spieluhr zeigt die 101. Minute, als der Schweizer Referee Gottfried Dienst im Zusammenspiel mit seinem sowjetischen Assistenten Tofik Bachramow eine folgenschwere Entscheidung fällt. Ein fulminanter Linksschuss von Hurst prallt von der Unterkante der Latte auf den Rasen und wird anschließend von Weber ins Toraus geköpft. Kam der Ball nun vor, hinter oder auf der Torlinie zu Boden? Diese Frage beschäftigt die Fußballwelt noch jahrzehntelang. Nur einer ist sich sofort sicher: Linienrichter Bachramow zeigt entschlossen in Richtung Anstoßkreis und überzeugt damit den zögerlichen Spielleiter Dienst. Damit steht es zum Entsetzen der deutschen Spieler und Anhänger 3:2 für England. Die Entscheidung ist gefallen, der Treffer zum 4:2 wiederum durch Hurst gegen eine entblößte deutsche Abwehr nur noch Ergebniskorrektur. Das »Wembley-Tor« hat das Finale zugunsten der Engländer entschieden.
Kein anderes Tor hat in der Geschichte des Fußballs so kontroverse und lang anhaltende Diskussionen ausgelöst wie das 3:2 gegen Deutschland. Fernsehstationen in aller Welt senden auch Jahrzehnte später in Zeitlupenwiederholungen und aus verschiedenen Perspektiven Bilder von der denkwürdigen Szene, als der von Geoff Hurst geschossene und von Torhüter Hans Tilkowski an die Lattenunterkante abgelenkte Ball vom Boden wieder zurückspringt. Wissenschaftler wurden bemüht, um endgültig zu klären, ob der Ball nach den Gesetzen der Mathematik und Physik vor oder hinter der Linie gewesen ist.
Während der damalige deutsche Bundespräsident Heinrich Lübke auch ohne Fernsehbeweis darauf bestand »Es war Tor! Ich habe genau gesehen, wie der Ball im Netz zappelte«, vermochte sich Schiedsrichter Gottfried Dienst auch 30 Jahre nach Wembley nicht festzulegen: »Ich weiß auch heute noch nicht, ob der Ball drin war. Und wenn Sie mich nach 100 Jahren wieder ausgraben und ich komme neu zur Welt, weiß ich es immer noch nicht.«
Auch der Physiklehrer Tofik Bachramow, auf dessen Scharfsichtigkeit sich Dienst im Finale verlassen hatte, erklärte ein Jahr später: »Ich habe nicht gesehen, dass der Ball im Tor war. Aber ich sah, wie der Engländer Hunt nach dem Schuss von Hurst die Arme hochriss. Ich sah auch, dass der deutsche Torwart einen untröstlichen Eindruck machte. Deshalb muss es Tor gewesen sein.«
Hurst äußerte sich in seinem 2001 erschienen Buch »1966 and all that« abschließend, er müsse »zugeben, dass es aussieht, als ob der der Ball die Linie nicht überschritten hat«. Aber: »Sofern nicht jemand das Gegenteil beweist, stimme ich mit den Herren Dienst und Bachramow überein.«
Wissenschaftler der Universität Oxford ermittelten nach umfangreichen Analysen der Fernsehbilder, dass der Ball die Linie des deutschen Tores nicht mit vollem Durchmesser überschritten haben kann. Auch wenn das Rätsel damit gelöst ist – der Mythos des dritten Tores bleibt. Vor dem Hintergrund des »Wembley-Tores« verblasst damals wie heute die Erkenntnis, dass England zu Recht die Weltmeisterschaft gewann.

Der Spielbericht stammt aus "Die Chronik des deutschen Fußballs", die Ihr mit vielen zusätzlichen Infos und Hintergründen auch online bestellen könnt: Chronik des deutschen Fußballs.