Exklusiv: Matthäus sieht doppeltes England-Problem
Was für ein EM-Endspiel in Berlin: Spanien und England kämpfen am Sonntag im Olympiastadion um Europas Fußball-Krone. In seiner Kolumne für sport.de erläutert Rekordnationalspieler Lothar Matthäus, warum Spanien Favorit ist und warum die Engländer ein Problem mit ihren Topstars haben.
Spanien ist mit überragenden Leistungen ins Endspiel der EM eingezogen, hat jedes Spiel verdient gewonnen. Eine Mannschaft, die sechs- oder siebenmal Leistung bringt, gibt es eigentlich gar nicht – aber die Spanier haben mich da eines Besseren belehrt. Daher gehen sie als Favorit ins Finale gegen England.
Die Engländer haben gegen Holland im Halbfinale in der ersten Halbzeit endlich mal sehr gut gespielt, auch wenn Oranje zu passiv war. Sie können es und sind für mich gegen Spanien auch nicht krasser Außenseiter. Aber gerade die zwei ganz großen Namen, Harry Kane, Torschützenkönig der Bundesliga, und Jude Bellingham, Champions-League-Sieger mit Real, sind nicht in der Form, die England braucht, um so einen großen Titel zu gewinnen.
Kane macht zwar seine Tore, gegen Holland aber zum Beispiel nur vom Punkt. Er hat bei dieser EM schon die ein oder andere Chance vergeben, die er bei Bayern München vor drei, vier Monaten noch gemacht hätte. Dynamik und Spielfreude sind bei diesen Schlüsselspielern der Engländer zurzeit nicht da. Vielleicht sind Kane und Bellingham vor der EM verletzungsbedingt aus dem Rhythmus gekommen. Vielleicht sind sie auch überspielt.
England ist ins Finale gekommen und Gareth Southgate hat recht, wenn er sagt: 'Was wollt ihr denn?! Wir sind zum zweiten Mal in Folge im Finale.' Aber natürlich werden auch in England gewisse Ansprüche gestellt. Nicht nur von Medien und Fans, sondern auch von Southgate und den Spielern selbst. Sie wissen, dass sie eigentlich anders performen müssten, um diesen Ansprüchen gerecht zu werden.
Yamal im Mittelpunkt - aber Morata und Rodri sind wichtiger
Immerhin: Mit dem Sieg gegen Holland sind die fünf Spiele davor vergessen und die Fans zufrieden. England geht natürlich besonders motiviert in das Spiel gegen Spanien, den ersten Titel seit 1966 ausgerechnet in Deutschland zu holen, macht sie heiß. Der Zusammenhalt bei den Three Lions stimmt – aber bei Spanien halt auch. Die Iberer waren schon vorher eine Einheit und sind unter Luis de la Fuente gewachsen. Er kannte viele Spieler schon aus dem Nachwuchsbereich. Spanien ist eingespielt, das System funktioniert: Das ist sicher ein Vorteil für die Seleccion.
Das System, das hingegen England jetzt spielt, ist nicht eines, was sie schon immer gespielt haben. Brillant, beeindruckend und unterhaltsam waren sie schon in den letzten Jahren allenfalls mal zwischendurch. Im Großen und Ganzen spielt England unter Southgate einen kontrollierten, biederen Fußball. Vom Sessel hat das trotz der vielen tollen Spieler im Kader keinen gehauen.
Aufgrund der gezeigten Leistungen, der Leichtigkeit, der Qualität und des Selbstbewusstseins, ist Spanien also der Favorit auf den Titel. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht der 17-jährige Lamine Yamal. Kein Wunder, wenn man so sein sensationelles Tor schießt, wie im Halbfinale gegen Frankreich. Da sind die Medien mit großen Schlagzeilen natürlich sofort dabei. Gegen Deutschland in Stuttgart war von Yamal allerdings nicht viel zu sehen. Auch das ist normal in diesem Alter, dass noch nicht jedes Spiel auf dem gleichen Niveau läuft.
Die Jungen wie Yamal und Nico Williams fallen bei Spanien zwar auf. Im Endspiel zählt aber Erfahrung. Ein Alvaro Morata spielt als Kapitän ein vorbildliches Turnier: Was er für Wege geht für die Mannschaft, welche Zweikämpfe er annimmt, wie er den Gegner schon in vorderster Position stört, wie er mitarbeitet –, da dreht sich alles um den Team Spirit. Rodri ist der Kopf der Mannschaft, der Denker und Lenker.
Wie verkraften die Spanier die englische Kampfkraft?
Das spanische Mittelfeld ist überhaupt top besetzt, eindeutig das Beste während dieser EM. Es heißt ja: Im Mittelfeld werden Spiele entschieden. In der Hinsicht treffen im Finale unterschiedliche Spielkulturen aufeinander: Die hohe Spielintelligenz der Spanier auf die englische Kampfkraft.
Insgesamt sehe ich im Mittelfeld klare Vorteile für die Spanier. Ihre Spielstruktur ist ganz klar: Spielfreude, den Ball laufen lassen, Ballkontrolle, kein großes Risiko eingehen. Die Spanier haben intelligente Spieler in ihren Reihen, die eigentlich in jeder Situation eine Lösung und konstruktive Ansätze finden. Das ist ihr großes Plus.
England muss gegen diese Offensive kompakt stehen und Nadelstiche setzen. Sie werden ganz sicher körperbetont spielen, haben eine physisch sehr starke Mannschaft. England ist robust, laufstark, aggressiv. Wenn man beispielsweise so eine Maschine wie Kyle Walker hat – da weiß der Gegner, was auf einen zukommt. Es wird interessant, wie die Spanier die Gangart der Engländer wegstecken, wie diese technisch starke Mannschaft reagiert, wenn sie bekämpft wird. Ein Rodri kann damit sicher umgehen, aber sind alle Spanier schon so weit? Ich glaube schon, dass sie es können, weil sie selbstbewusst sind und einfach diese Sicherheit haben.
Die Spanier haben mich bisher mehr begeistert als die Engländer, deswegen wünsche ich ihnen auch den dritten EM-Titel. Es wird ein spannendes Spiel. Ich tippe auf ein 2:1 für Spanien.
Lothar Matthäus