Deshalb wird das EM-Finale ein Herzschlag-Krimi
Während Spanien bei der EM 2024 fast durchgehend mit attraktivem Offensiv-Fußball überzeugt hat, zeigte England erst im Halbfinale gegen die Niederlande, warum die Three Lions Sonntag in Berlin um den EM-Titel spielen. Der Datenvergleich zwischen beiden Nationen spricht dafür, dass kein einseitiges Endspiel zu erwarten ist - sondern vielmehr ein Krimi.
Mit England ist immer zu rechnen. Nicht nur die Tatsache, weil das Team von Gareth Southgate zum zweiten Mal in Serie das Finale einer Europameisterschaft erreicht hat (das schaffte zuletzt Spanien 2008 und 2012) spricht für den Erfolgshunger der Engländer.
In allen K.o.-Spielen lag die Southgate-Elf in Rückstand und ging am Ende doch als Siegerin vom Platz. Sowohl gegen die Niederlande als auch gegen die Slowakei im Achtelfinale schoss England ein entscheidendes Tor in der Nachspielzeit.
Spanien hingegen marschierte trotz der umstrittenen Elfmeterszene im Viertelfinale gegen Deutschland durch das Turnier und gewann alle sechs Spiele - so viele Siege hintereinander fuhr noch keine andere Mannschaft bei einer EM-Endrunde ein.
Spanien mit Offensiv-Rekord, England effektiver
Die Furia Roja erzielte zudem 13 Tore und würde mit einem weiteren Treffer den Rekord von Frankreich (1984) für ein EM-Turnier einstellen. Wirft man einen Blick auf die Offensivleistung, ist der Unterschied zwischen beiden Finalisten immens:
- Die Spanier erzielten fast doppelt so viele Tore wie England (7) und stellen neun unterschiedliche Torschützen. Letzteres ist Rekord für eine EM-Endrunde!
- Besonders frappierend ist der Unterschied bei den abgegebenen Schüssen: Obwohl Harry Kane der Spieler im EM-Finale mit den meisten Abschlüssen ist (17), feuerte Spanien 39 Schüsse (!) mehr ab als die Three Lions und hatte fast doppelt so viele Großchancen (21 zu 11). Bei der Verwertung hat allerdings England die Nase vorn (36 gegenüber 29 Prozent).
Dass England offensiv aber ähnlich gute Optionen hat, bewies Southgate im Halbfinale mit der Auswechslung von Torschütze und Kapitän Kane und der Einwechslung des Siegtorschützen Ollie Watkins.
System und Spielweise
Spaniens Trainer Luis de la Fuente agiert mit einem 4-3-3, in dem sich die Aufgaben im Mittelfeld seit der Verletzung von Pedri etwas verschoben haben. Der Mann vom FC Barcelona spielte bei Spanien zusammen mit Taktgeber Rodri und Fabian Ruiz nahezu in einer Reihe.
Dani Olmo, der eine entscheidende Rolle als Torschütze gegen Deutschland und Frankreich erzielte, versteht sich eher als ein echter Zehner und strahlt deutlich mehr Torgefahr als Pedri aus. Eine schicksalhafte Fügung für den Leipziger und seinen Trainer also, der offensiv noch unberechenbarer erscheint.
Gareth Southgate, der mit einer Viererkette ins Turnier startete und inzwischen auf eine Dreierkette setzt, ist vom Spielstil her deutlich konservativer. Mehrfach wurde das Spiel der Engländer als "langweilig" verspottet, Fans und Medien auf der Insel verzweifeln regelmäßig, angesichts der internationalen Spitzenklasse im Kader steckt.
Doch der Erfolg gibt dem ehemaligen Verteidiger recht. Man könnte auch sagen: Spanien lässt das Spiel deutlich schöner ausschauen, England springt - überspitzt gesagt - nur so hoch, wie es muss. In den Daten spiegeln sich die unterschiedlichen Ansätze jedoch kaum wider.
- Durchaus überraschend hat England sogar minimal mehr Ballbesitz (57,9 Prozent) als die Seleccion (57,4), ähnlich verhält es sich bei der Passquote (90 gegenüber 89 Prozent). Beispielhaft dafür: Im Halbfinale brachte Phil Foden alle seine Pässe an den Mann, im Viertelfinale spielte Declan Rice 94 Pässe, von denen 93 beim Mitspieler ankamen.
- Die Furia Roja setzt den Gegner bereits früh unter Druck, das zeigen die mit Abstand meisten Ballgewinne aller Mannschaften im offensiven Spielfelddrittel (44). Die abwartenden Engländer verzeichnen nur 22, also nur halb so viele.
- Äußerst geschickt agieren die robusten Three Lions im Zweikampf: England griff deutlich seltener zu Fouls (nur 50 gegenüber 83 der Spanier), gewannen aber starke 54 Prozent seiner Zweikämpfe (Spanien 49 Prozent).
Offensive gewinnt Spiele, Defensive Titel?
Die Engländer kassierten vier Gegentore, die Spanier sogar nur drei. Doch die Defensivleistung über das gesamte Turnier scheint diesmal nicht den Europameister zu machen. Zu schlecht sahen die Engländer vor Gegentoren aus, während die Spanier in der hintersten Reihe schlichtweg keine Weltklasse verkörpern. Die große Stärke beider Mannschaften liegt darin, den Ball vom eigenen Tor fern zu halten. Das wird keine 90 respektive 120 Minuten lang gelingen, weshalb ein Blick auf die Torhüter lohnt.
Weder Jordan Pickford (FC Everton) noch Unai Simon (Athletic Bilbao) stehen bei europäischen Spitzenklubs unter Vertrag und verfügen beide über keinerlei Erfahrung in der Champions League. Lediglich Pickford absolvierte drei Europapokalspiele. Durchaus überraschend für Stammtorhüter derart großer Fußballnationen. Beim Blick auf ihre EM-Statistiken ist Simon leicht im Vorteil:
- Der spanische Schlussmann, der am dritten Gruppenspieltag eine Pause bekam, parierte 80 Prozent der gegnerischen Schüsse und hätte laut der Expected Goals 5,4 Gegentore kassieren müssen - es waren aber nur drei.
- Pickford wehrte 76 Prozent der Schüsse ab und kassierte die vier Gegentore, die auch die Expected Goals "vorsahen".
- Die Erfahrung könnte aber den Ausschlag für Pickford geben, der bereits 25 Mal bei großen Turnieren im Tor stand, der Spanier absolvierte nur 15 solcher Spiele.
Ein deutlicher Sieg ist im Finale von Berlin nicht zu erwarten. Die Entscheidung durch ein "Last-Minute-Tor" oder gar ein Elfmeterschießen drängt sich beinahe auf. Bei Letzterem wird sich zeigen, ob die erfahreneren Three Lions dem Druck gewachsen sind, an dem sie im EM-Finale 2021 noch scheiterten, und endlich den ersehnten ersten großen Titel seit 1966 holen.
Lars Wiedemann