Der Traum lebt - Georgien feiert Jahrhundert-Sensation
Georgien hat einen Traum: Unabhängig vom großen Nachbarn Russland, dafür Mitglied der europäischen Familie sein. Während die Regierung in Tiflis politische Spannungen erzeugt, bringt die georgische Nationalmannschaft das Land bei der Fußball-Europameisterschaft zusammen. In Gelsenkirchen gelingt dem Team eine Jahrhundert-Sensation.
Auf Schalke wird am Mittwochabend um zwei Minuten nach 21 Uhr von der Pressetribüne ein Stoßgebet gen Himmel geschickt. Der Absender heißt Giorgi, ein 19-jähriger Journalist aus Khabume, der für das georgische Portal "Footballnews.ge" über die Europameisterschaft in Deutschland berichtet.
In diesen Sekunden aber, in denen die Schalker Arena bebt, in denen georgische Herzen vor Freude explodieren, in diesen Sekunden verlässt Giorgi seine Rolle als Berichterstatter und wird zum Fan. Wer will es ihm verdenken?
Khvicha Kvaratskhelia hat EM-Debütant Georgien im letzten Vorrundenspiel gegen Turnier-Mitfavorit Portugal in der zweiten Minute nach einem schnellen Konter in Führung geschossen. Der Traum des Underdogs lebt. Und doch beginnt das große Zittern. Denn Portugal – als Gruppensieger schon für das Achtelfinale eingeloggt – will sein letztes Spiel in Gruppe F nicht einfach hergeben.
Angetrieben von einem seltsam wütenden Cristiano Ronaldo, der sich in Gelsenkirchen zum ältesten Torschützen der EM-Geschichte küren will, rennt die Selecao an. Giorgi bekreuzigt sich, sinkt in seinen Stuhl. Die Fingernägel des jungen Mannes werden den Abend nicht überstehen.
Die im Vergleich zum 3:0 gegen die Türkei auf acht Positionen veränderte portugiesische B-Elf erspielt sich schon ersten Durchgang mehrere Top-Chancen. Ein ums andere Mal rauscht der Ball knapp am georgischen Gehäuse vorbei.
Vom FC Bayern einst umworbener Georgien-Torwart wehrt alles ab
Vielleicht ist es eintretende Gerechtigkeit, dass Georgien vom Ausgleichstor, dem wohl sicheren Bestatter aller Achtelfinal-Hoffnung, verschont bleibt. In den ersten Partien gegen die Türkei (1:3) und Tschechien (0:0) hatte Fortuna ihren Mantel des Glücks nicht um die Mannschaft des früheren Bayern-Profis Willy Sagnol gelegt. In Gelsenkirchen hingegen – so scheint es – hält der Fußball-Gott, dem Schalke-Ikone Rudi Assauer einst nebenan im Parkstadion abschwor, seine schützende Hand über Georgien.
Und kommt der Ball doch aufs Tor des Außenseiters, ist Giorgi Mamardashvili auf Zack. Der Torwart vom FC Valencia zeigt auch in seinem dritten EM-Spiel, warum er im Vorjahr lange beim FC Bayern auf dem Zettel stand. Georgiens Kreuzritter verteidigen leidenschaftlich, setzen vorne immer wieder kleine Nadelstiche. Mit der knappen Führung geht es in die Pause.
Nach Wiederanpfiff spielen die Georgier mutiger. Was immer Sagnol ihnen in der Kabine eingeimpft hat –, es wirkt. Und ab der 53. Minute kippt das Spiel endgültig zugunsten der Männer in Rot, nimmt das georgische Fußball-Wunder seinen Lauf.
Antonio Silva trifft im Sechzehner beim Versuch den Ball zu klären den großen Zeh von Luka Lochoshvili. Der stürzt zu Boden, Schiedsrichter Sandro Schärer lässt dennoch weiterspielen, was zu einer weiteren Großchance der Portugiesen führt: Mamardashvili wischt Diogo Dalots Schuss mit seiner rechten Pranke aus dem Giebel.
Aufatmen im georgischen Block, während sich Schärer ans Ohr fasst. Der VAR informiert den Schweizer über Silvas Regelbruch. Nach kurzem Videostudium zeigt Schärer auf den Punkt. Ein georgischer Sturm fegt durch Schalke. Georges Mikautadze, mit einem perfekt getimten Pass in die Gasse schon Vorbereiter des 1:0, bewahrt vom Punkt sämtliche Nerven.
Andy-Brehme-esk schiebt er die Kugel flach ins Eck, Zentimeter vorbei an den Fingerspitzen des abgetauchten portugiesischen Tormanns Diogo Costa. Der Sturm wird zum Orkan. Kein Halten mehr, auch nicht bei Giorgi, dessen journalistische Distanz in der abendlichen Sommerschwüle verdampft. Und nochmal: Wer will es ihm verdenken?
EM-Sieg über Portugal: Georgien aus dem Häuschen
Dem 2:0 zum Trotz: Georgiens Zitterpartie geht weiter. Portugal wechselt Altstar Ronaldo aus, greift erneut energisch an. Doch was immer die Iberer auch versuchen – die Endstation heißt stets Mamardashvili.
Um 22:53 Uhr ist die Sensation der Europameisterschaft 2024 perfekt. Georgien, nur über den Umweg Nations League und Playoffs für das Turnier qualifiziert, steht in der Runde der besten 16. Im Achtelfinale trifft die Sagnol-Elf auf den dreimaligen Europameister Spanien. "Georgia is coming Spain, Georgia is coming!", schreit Giorgi in sein Handy. Die bisher so souverän durch das Turnier marschierende Hochkaräter-Seleccion sollte gewarnt sein.
Schon die Qualifikation für die EM in Deutschland sei ein historisches Ereignis für das Land im Kaukasus gewesen, erzählt der in Emotionen aufgelöste Giorgi. "Das war der beste Tag meines Lebens, der Beste im Leben vieler Georgier." Was jetzt erst in der Hauptstadt Tiflis und den anderen Großstädten los sei? "Alle werden auf der Straße sein. Eine Riesenparty." 3,4 Millionen Menschen aus dem Häuschen.
"Das ist ein Traum, auf den die Georgier lange gewartet haben. Nach 33 Jahren unserer Unabhängigkeit liegt das Beste noch vor uns", ordnet Giorgi die Bedeutung des historischen Abends ein. "Die Georgier lieben den Fußball. Ich kann es nicht glauben, dass wir ein so starkes Team wie Portugal geschlagen haben, dass der Debütant der EM solch einen großen Erfolg erreicht. In diesem Moment ist in Georgien jeder glücklich, die Straßen brummen. Nur der Fußball kann unser Land vereinen."
Der junge Journalist spielt auf die politische Lage der Nation an. Erst kürzlich hat die Regierung ein umstrittenes Gesetz durchgedrückt, dabei auch ein Veto der proeuropäischen Präsidentin Salome Zourabichvili überstimmt. Nicht-Regierungsorganisationen und Medien unterstehen künftig behördlicher Kontrolle, wenn sie zu 20 Prozent und mehr aus dem Ausland finanziert werden. Ein Angriff auf die Zivilgesellschaft, auf kritische Geister, überhaupt auf Kritiker der Regierungspartei "Georgischer Traum". So empfinden es viele Georgier.
Georgiens Traum lebt auf dem Fußball-Rasen
Auch die Europäische Union, in die Georgien kraft seiner Verfassung strebt, hat das Gesetzeswerk scharf kritisiert, sieht darin einen Maulkorb. Wer die Politik der Regierung nicht unterstützt, wer kritisiert, wer anprangert –, dem werde das Leben schwer gemacht, heißt es aus Brüssel. EU-Finanzspritzen für den Beitrittskandidaten am Schwarzen Meer sollen gekürzt werden.
Viele Georgier demonstrierten wochenlang gegen das Vorhaben ihrer Regierung. Sie sehen in dem Gesetz "gegen ausländische Einflussnahme" eine Kopie des russischen Gesetzes "gegen ausländische Agenten", mit dem der Kreml seine Gegner (mund)tot macht. Wird der georgische Traum zum Albtraum?
Auf Schalke ist der Vielvölkerstaat vereint. Fürs Erste wohl auch zu Hause. Ob der wahre "Georgische Traum" dieser Tage nicht vielmehr auf saftig grünen Rasen und auf kochenden Tribünen in Deutschland lebt, denn in Regierungspalästen zu Tiflis? Giorgi nickt.
Martin Armbruster, Gelsenkirchen