24.06.2024 07:01 Uhr

Abwehr-Alarm! Brutal bitterer Abend für die DFB-Defensive

Antonio Rüdiger und Jonathan Tah waren gegen die Schweiz viel beschäftigt
Antonio Rüdiger und Jonathan Tah waren gegen die Schweiz viel beschäftigt

Die deutsche Nationalmannschaft holt im letzten EM-Gruppenspiel gegen die Schweiz ein Last-Minute-Remis und damit den Gruppensieg. Sorgen bereitet aber die Defensive der DFB-Auswahl.

Antonio Rüdiger sank auf die Knie, ging zu Boden und begann zu beten. Von hinten stürmte Manuel Neuer heran und herzte seinen Abwehrboss, der dann an seinem Oberschenkel hantierte.

Der Innenverteidiger musste nach dem Abpfiff tief durchatmen. Hinter ihm lag ein harter Arbeitstag. Einer, der nicht immer leicht war und bei dem auch einiges nicht gelang – selbst in den Momenten des Jubels.

Oberschenkel ärgert Rüdiger

So geschehen zwei Minuten zuvor. Joker Niclas Füllkrug nickte eine Flanke von Co-Joker David Raum ins Tor und erlöste das DFB-Team nach vorangegangenen 90 torlosen Minuten. Direkt hinter Füllkrug war auch Rüdiger hochgestiegen, der BVB-Stürmer kam ihm allerdings zuvor. So blieb Rüdiger die Rolle als erster Gratulant. Mit breiten Armen empfing er Füllkrug zur Tor-Party. In all der Jubelei blieb Rüdiger dann aber am längsten auf dem Frankfurter Rasen liegen, offenbar hatte sich der Abwehrhüne beim Jubeln wehgetan. Der Oberschenkel schmerzte, es krampfte. Humpelnd ging es für den Defensivmann zurück in die eigene Hälfte – eine Mixtur aus Schmerz und Freude. Es war ein bisschen ein Symbolbild des Abends.

Auf dem Rückweg holte er sich nochmal allerletzte Anweisungen vom Bundestrainer Julian Nagelsmann ab. Kurz zuvor hatte ihn der Coach noch nach vorne geschickt, um in den letzten Minuten die Wucht Rüdigers in der Offensive zu nutzen. All in. "Am Ende haben wir Antonio reingestellt vorne, um einen weiteren Innenverteidiger zu binden", erklärte der Bundestrainer nach der Partie. "Es war viel Risiko, aber wir wurden belohnt."

Gegen eine Schweizer Defensive, die über die nahezu gesamte Spielzeit der deutschen Kreativabteilung um Jamal Musiala, Florian Wirtz und Toni Kroos nur sehr wenig Raum zur Entfaltung ließ.

Schweiz setzt Nadelstiche

Überhaupt die Schweizer. Die Nati hatte dem DFB-Team eine klare Ansage für das Endspiel um den Gruppensieg gemacht. "Wir wollen die Deutschen ärgern," sagte Torschütze Xherdan Shaqiri schon direkt nach dem Spiel gegen Schottland. Und wie sie das taten. Der angekündigte "Härtest" – er war wirklich einer. Nicht nur für die deutsche Offensive, sondern auch für die Abwehrreihe der Nagelsmann-Elf.

Der Bundestrainer schickte zum dritten Mal bei dieser EM die gleiche Startelf ins Rennen. Dabei waren gleich vier Profis mit akuter Sperren-Gefahr in der Startelf, darunter die Abwehrreihe um Jonathan Tah, Antonio Rüdiger, Maximilian Mittelstädt und Robert Andrich. Dazu gleich mehr.

Die Schweiz spielte mutig mit, auch nach den ersten Chancen von Kai Havertz und Ilkay Gündogan. Ein vermeintlicher Führungstreffer von Robert Andrich (im Zusammenspiel mit einem Torwartfehler von Sommer) wurde wegen eines vorangegangenen Foulspiels von Jamal Musiala zurückgenommen (17.). Nach Blick auf den Bildschirm annullierte der Referee Daniele Orsata den Treffer – quittiert von Pfiffen der DFB-Fans.

Dann folgte die kalte Dusche: Die deutsche Nationalelf kassierte das erste Gegentor von einem gegnerischen Spieler bei dieser EM (gegen Schottland hatte Rüdiger per Eigentor geholfen), eine Flanke von Remo Freuler spitzelte Dan Ndoye halbhoch ins Netz, dem vorangegangen war eine deutsche Fehlerkette der Hintermannschaft. Rüdiger rückte zu spät raus, Nebenmann Tah war anschließend einen Schritt zu langsam bei seinem Gegenspieler. Ndoye schlug zu. "Ein technisch anspruchsvolles Tor", lobte Nagelsmann. Und dennoch ein verhinderbares.

Wieder enteilt Ndoye

Die DFB-Elf leckte noch die frische Wunde, da war der flinke Ndoye schon wieder enteilt und ließ die deutschen Abwehrmänner schlecht aussehen – diesmal lief er Rüdiger davon. Gut eine Minute nach dem VAR-Check des ersten Tores verpasste der Schweizer Stürmer nur hauchdünn den zweiten Treffern. Sein flacher Schuss rauschte rechts am Kasten vorbei. Durchatmen. Bei Rüdiger. Bei Tah. Bei den Fans.

Noch vor der Halbzeit vergab Rüdiger die große Chance zur Wiedergutmachung. Sein Kopfball aus kurzer Distanz setzte er etwas ungelenk über das Tor.

So rückten in dieser ersten Halbzeit mit Tah und Rüdiger zwei der stabilsten Verteidiger der vergangenen Saison in den Fokus. Beide wurde zu Recht viel gelobt: Tah marschierte mit Bayer Leverkusen durch die Bundesliga und Europa. Die Bayern haben nach dessen Fabel-Saison großes Interesse an dem Leverkusen-Kapitän.

Nagelsmann legte sich früh auf das Duo Tah und Rüdiger als deutsche Abwehrbollwerk fest.

Letzterer ist ein zentraler Baustein in der Defensive von Carlo Ancelottis Wunder-Team von Real Madrid, das Anfang Juni wieder einmal die Champions League gewann. Doch der Schweizer Ndoye zeigte am Sonntag, dass auch gegen Tah/Rüdiger Nadelstiche möglich sind. Dass das Bollwerk auch ein bisschen bröseln kann.

Und dann auch noch diese Gelbe Karte

Es war auch nicht der letzte bittere Moment an diesem zunächst gebrauchten Abend für die beiden.

Kurz darauf sah Tah nach einem übermotivierten Luft-Zweikampf gegen Breel Embolo an der Mittellinie die Gelbe Karte, die zweite im Turnier. Der Doublesieger wird daher im Achtelfinale am kommenden Samstag gesperrt fehlen, auch wenn der Bundestrainer mit der Entscheidung unzufrieden war. "Die Gelbe Karte für Tah war nicht berechtigt, das ist ärgerlich. Wir haben aber genügend Qualität, das aufzufangen", sagte Nagelsmann bei "MagentaTV" über das gefährliche Spiel des 28-Jährigen.

Die Wahl auf den Ersatz für Tah wird wohl zwischen Nico Schlotterbeck und Waldemar Anton fallen. Der Dortmunder Schlotterbeck wurde nach 61. Minuten bereits für Tah eingewechselt und konnte sich gut eine halbe Stunde mit Rüdiger einspielen.

"In dieser Phase ist es schwer reinzukommen für einen Innenverteidiger. Er hat das sehr gut gemacht", sagte Nagelsmann zur Leistung von Schlotterbeck. Festlegen wollte sich der 36-Jährige aber noch nicht. "Er und Waldi haben da ein Duell. Wir konnten nicht beide bringen, beide haben es verdient. Wir haben Vertrauen in den ganzen Kader." Auch Anton, der herausragend trainiere, habe einen Einsatz "längst verdient", sagte Nagelsmann. Alleine das Ergebnis machte diesem Plan noch einen Strich durch die Rechnung.

Müssen Schlotterbeck und Anton ran?

Und wer weiß: Vielleicht kommt es sogar auch zum doppelten Einsatz der beiden Ersatzmänner. Es droht die große Umstellung. Denn Rüdiger wirkte nach dem Spiel deutlich angeschlagen.

Auch Nagelsmann wusste in der Pressekonferenz noch nichts Genaueres. Eine Diagnose steht noch aus. "Er hatte Probleme am Oberschenkel. Wir hoffen, dass es nichts Schlimmes ist." Immerhin stehen nun fünf spielfreie Tage an.

Ansonsten müsste der DFB-Coach ausgerechnet im ersten K.o.-Spiel am Samstag in Dortmund (21 Uhr) – wahrscheinlicher Gegner ist Dänemark, sein Abwehrzentrum komplett umbauen. Es wäre der nächste große Stresstest bei dieser EM für das deutsche Team. Den gegen die Schweiz hat sie bestanden – allerdings mit ein paar Schrammen.

Emmanuel Schneider, Frankfurt