06.11.2020 11:48 Uhr

Darum nimmt das Verletzungsrisiko im Fußball zu

Steigende Anforderungen sind ein Hauptgrund für das gestiegene Verletzungsrisiko
Steigende Anforderungen sind ein Hauptgrund für das gestiegene Verletzungsrisiko

In den letzten Jahrzehnten hat sich im Fußball weitaus mehr verändert als die Gesichter, die in den Trikots ihres Vereins um Pokale spielen. Die Fans haben einen Wandel in allen Segmenten erlebt, die den Fußball und dessen Spieler auch nur teilweise betreffen: Taktik, Training, Gehalt, Ablösesummen, Lifestyle.

Der Fußball ist größer geworden, ebenso wie die Anforderungen an die Spieler. Mit Bier nach dem Spiel, wie phasenweise in den 70ern und 80ern üblich, ist nichts mehr. Die Spieler sind nun Vollblutprofis, für die teilweise zwei- bis dreistellige Millionenbeträge über den Tisch wandern. Als solche müssen sie das Optimum aus sich herausholen. Diese steigenden Anforderungen führen zu zunehmendem Verletzungsrisiko. Die Kommerzialisierung des Fußballs trägt entscheidend dazu bei.

Hohes Verletzungsrisiko auch beim Amateur-Fußball anzutreffen

Selbst in Amateur-Vereinen und beim Altherren-Fußball ist das Verletzungsrisiko außerordentlich hoch, wie Studien des Teamarztes der deutschen Nationalmannschaft Prof. Tim Meyer zeigen. In einer Dauer von neun Monaten wurden bei den untersuchten Altherren-Hobbykickern 88 Verletzungen festgestellt. Im Vergleich zu den Profis waren die Verletzungen in Bezug auf die Spielaktivität ungefähr genauso hoch. Da in Amateur- und Altherren-Vereinen die medizinische Versorgung im Gegensatz zum Profifußball nicht sofort verfügbar ist, ist zuletzt auch die Bedeutung der Ersten Hilfe in Vereinen angestiegen. Hier ist es besonders wichtig, dass sich bei Verletzungen auf dem Platz korrekt verhalten wird, um diese nicht unnötig zu verschlimmern.

Gestiegene Ansprüche: Lässt sich damit alles erklären?

Wenn die Ansprüche bzw. Anforderungen steigen, ist mehr Arbeit notwendig, um diesen gerecht zu werden. Mehr Arbeit bedeutet eine höhere Belastung für Körper und Psyche der Spieler. Mehr Belastung führt zu einem steigenden Verletzungs- bzw. Erkrankungsrisiko. Ist damit alles erklärt? Betrachtet man den Wandel, den der Fußball in den letzten Jahrzehnten durchlaufen ist, könnte man die geschilderte Vermutung klar bestätigen. Allein in Puncto Laufleistung hat sich einiges getan, wie das Ärzteblatt vor der Weltmeisterschaft 2014 zusammentrug:

  • Bei der WM 1954 betrug die körperliche Laufleistung der Spieler pro Spiel durchschnittlich drei Kilometer.
  • In den 70er Jahren verdoppelte sich die durchschnittliche Laufleistung der Spieler auf sechs Kilometer pro Spiel.
  • 2014 lag die Laufleistung eines Spielers im Durchschnitt bei zwölf Kilometer pro Spiel.

Die Laufleistungen sind gestiegen, was eine höhere Belastung im Spiel zur Folge hat. Diese Beobachtung deckt sich mit der Statistik, dass die Wahrscheinlichkeit für eine Verletzung im Spiel drei- bis zehnmal höher ist als für eine Verletzung im Training. Es scheint also vor allem die Belastung in den Spielen zu sein, die das Verletzungsrisiko steigert. Ein maßgeblicher Grund dafür ist der taktische Wandel.

Taktik ist vielschichtiger und professioneller geworden

Tiki-Taka, rasantes Pressing – die Taktik hat sich entwickelt
Tiki-Taka, rasantes Pressing – die Taktik hat sich entwickelt

Taktisch gesehen hat sich der Fußball vor allem in den letzten bis zu zwölf Jahren enorm entwickelt. Bestimmte Persönlichkeiten prägten eine Ära. Nicht zu vergessen ist beispielsweise die Ära Pep Guardiolas beim FC Barcelona. In der Saison 2008/2009 entstand unter seiner Führung ein Verein, der mit dem berüchtigten Tiki-Taka das Kurzpassspiel neu erfand. Dieselbe Spielweise adaptierte auch die spanische Nationalmannschaft. Über rund sechs Jahre dominierte dieser Spielstil, der weniger für die eigene Mannschaft, dafür für die Gegner umso belastender war: Alle Mannschaften mussten sich verschieben und den kurz gespielten Bällen hinterherlaufen. Insbesondere in Spielen mit der Beteiligung Barcelonas hatten die Gegner hohe läuferische Leistungen zu verbuchen. Dieselbe Entwicklung zeigte sich schließlich auch bei anderen Top-Mannschaften Europas: Sie spielten auf Ballbesitz, Überlegenheit wurde über Ballbesitz definiert.

Im Laufe der letzten Jahre haben schnelles Umschaltspiel und Pressing an Popularität gewonnen. Auf die Spitze trieb der FC Bayern München das Pressing unter Trainer Flick. Selbst in der letzten Minute des CL-Finals gegen Paris St. Germain gingen die Bayern bei knappem Vorsprung aggressiv drauf und gaben dem Gegner nicht die Chance, eine Schlussoffensive zu entfalten. Dieses Pressing raubt sowohl der ausführenden Mannschaft als auch dem Gegner Kraft.

Die taktischen Veränderungen und die taktischen Revolutionen der letzten Jahrzehnte tragen dazu bei, dass die Belastung auf die Spieler steigt. Sie müssen nicht nur körperlich, sondern auch mental höhere Leistungen abrufen. Zudem nahm die Menge an riskanten Bewegungen vor allem in den letzten Jahren nochmals zu: Immer mehr schnelle Richtungswechsel, immer mehr abrupte Körpertäuschungen – so werden die Gelenke und Muskeln gereizt.

Ehrgeiz der Spieler als weiterer Faktor

Interessant ist eine weitere Statistik aus dem zuvor zitierten Ärzteblatt-Artikel: Jede vierte Verletzung eines Fußballers ist eine wiederkehrende Beschädigung aufgrund zu schnell gesteigerter Belastung. Zu schnell gesteigerte Belastung kann mehrere Gründe haben. Neben eines schlechten Managements durch das Ärzteteam innerhalb des Vereins ist ein weiterer potenzieller Grund der Ehrgeiz der Spieler.

Die Spieler stehen im Fokus und werden durch die Kommerzialisierung des Fußballs sowie die schnelle Verbreitung über die Sozialen Medien immer bekannter. Es geht heute mehr als je zuvor darum, im Konzert der ganz Großen herauszustechen und Rekorde zu sammeln. Einige Spieler lassen sich fit spritzen, genesen aber nicht vollständig. Andere steigern im Reha-Programm zu schnell die Belastung und werden rückfällig. All dies passiert, um bei den Spielen dabei zu sein. Dank der Kommerzialisierung des Fußballs gibt es mittlerweile zunehmend Spiele und Wettbewerbe. Jüngstes Beispiel ist die neue Nations League.

Was ist mit dem Faktor "Pech"?

Wenn man sich anschaut, wie häufig sich einige Spieler in ihrer Karriere verletzt haben, möchte man ihnen tatsächlich Pech attestieren. Ein Holger Badstuber war einst ein ausgezeichneter Innenverteidiger mit herausragenden Fähigkeiten im Spielaufbau. Nach mehreren Kreuzbandrissen ging es für ihn zwischenzeitlich in die zweite Liga. Auch erfolgreiche Spieler, wie Arjen Robben, hat es in ihrer Karriere häufig getroffen. Arjen Robben hat auch bei seinem Comeback in dieser Saison bereits mehrere Verletzungen erlitten.

Bei einigen Spielern kann das Alter als Grund für Verletzungen herangezogen werden. Andererseits ist Zlatan Ibrahimovic fast 40 Jahre alt und sorgt zurzeit in der italienischen Serie A für Furore. Verbleibt also die Frage, ob Pech nicht eine Frage des Lifestyles ist. Dass die gestiegene Verletzungshäufigkeit einem schlechten Lifestyle der Spieler geschuldet ist, wäre aber eine starke Anschuldigung.