1998: Hooligans sorgen für Deutschlands Schande
Alle vier Jahre wird bei WM-Endrunden Geschichte geschrieben. Während der Weltmeisterschaft in Russland erinnert weltfussball an kuriose Ereignisse und unvergessene Momente. Heute: Die große Schande für Deutschland.
Die WM 1998 in Frankreich gehört sportlich nicht zu den erfolgreichsten in der DFB-Geschichte. Für den seinerzeit amtierenden Europameister war im Viertelfinale Schluss. Weit tragischer jedoch waren die Ereignisse, die sich nach dem deutschen Vorrundenspiel gegen Jugoslawien (2:2) ereigneten und das Leben eines französischen Polizisten und seiner Familie für immer verändern sollten.
Wenn heutzutage mitunter von der stetig steigenden Gewalt rund um den Fußball die Rede ist, muss man manchem Lautsprecher in Medien oder Politik offenkundig Amnesie unterstellen. Die Gewalt rund um den Fußball ist kein so neues Phänomen, im Gegenteil: Manche der schlimmsten Exzesse gehören der Vergangenheit an.
Ein trauriger Höhepunkt: Die WM 1998 in Frankreich. Die Ausschreitungen englischer und tunesischer Hooligans in Marseille sind vielleicht nur noch wenigen in Erinnerung. Das traurigste Kapitel aber ereignete sich am 21. Juni im nordfranzösischen Lens.
Im Stadion Félix Bollaert steht das Vorrundenspiel der DFB-Auswahl gegen Jugoslawien auf dem Programm. Hunderte deutsche Anhänger sind ohne Karten in der Stadt. Unter ihnen auch vier Männer im Alter von Mitte 20 bis Anfang 30 – allesamt Mitglieder der deutschen Hooligan-Szene. Zusammen mit mehreren Dutzend Gesinnungsgenossen sind sie im Stadtzentrum auf der Suche nach einer Gelegenheit sich mit jugoslawischen Anhängern zu prügeln.
"Als ob sie sich auf ein verwundetes Tier stürzten"
Die französische Polizei und Armee ist vorbereitet und zeigt Präsenz, der Weg vom Stadion zum Bahnhof ist abgesperrt. Bereits gegen Mittag kommt es zu ersten Auseinandersetzungen. Auch nach dem Spielende hält der Riegel der Staatsmacht. Dann jedoch machen ca. 30 deutsche Hooligans eine Schwachstelle in dieser Kette aus: eine Seitenstraße, die in die Kreuzung Bollaert mündet.
Dort bewacht der Gendarm Daniel Nivel gemeinsam mit zwei Kollegen abgestellte Polizeifahrzeuge. Ein halbes Dutzend der deutschen Schläger greift die drei Polizisten sofort an. Während Nivels Kollegen noch flüchten können, gerät der 43-Jährige in die Fänge der alkoholisierten Angreifer.
Die furchtbaren Szenen, die sich daraufhin binnen weniger Augenblicke abspielen, werden Zeugen später als "Blutrausch" bezeichnen. Nivel wird dutzendfach brutal getreten und geschlagen - auch mit einer Reklametafel und dem Metallrohr seines eigenen Gasgranatenaufsatzes, den er beim ersten Angriff verloren hatte. "So wie ein Hund, der sich in sein Opfer verbeißt" und "als ob sie sich auf ein verwundetes Tier stürzten" seien die Täter vorgegangen, wird es später während der Verhandlung gegen die Täter über die unfassbare Brutalität des Angriffs heißen.
Hohe Haftstrafen
Dass die vier Männer überhaupt gefasst werden können, ist einigen Zeugenaussagen sowie Foto- und Videoaufnahmen zu verdanken, die die Polizei in langwierigen Recherchen ausfindig machen kann. 1999 kommt es vor dem Landgericht Essen zu einem ersten Prozess, die Angreifer werden zu Haftstrafen zwischen dreieinhalb und zehn Jahren verurteilt. Der zum Tatzeitpunkt 27-jährige Haupttäter wird zwei Jahre später von einem französischen Gericht zu einer fünfjährigen Haftstrafe und einem zehnjährigen Einreiseverbot nach Frankreich verurteilt.
Die unmittelbaren Reaktionen in der deutschen Öffentlichkeit sind von Entsetzen geprägt. Arbeitsminister Norbert Blüm, der im Krankenhaus von Lille Daniel Nivels Frau trifft, nennt das Geschehene "eine Schande für Deutschland". Auch Bundeskanzler Helmut Kohl spricht von einer "nationalen Schande". Der DFB erwägt kurzzeitig, das Team vom Turnier zurückzuziehen.
Die Mannschaft spielt jedoch weiter, gewinnt ihre Vorrundengruppe, und stößt nach einem mühsamen 2:1 gegen Mexiko ins Viertelfinale vor. Dort aber geht der Europameister gegen Kroatien am 4. Juli in Lyon mit 0:3 unter. Das internationale Ansehen Deutschlands ist nach dem traurigen Tag von Lens bereits schwer angeschlagen, der deutsche Fußball wird seinen Tiefpunkt erst zwei Jahre später bei der EM in Belgien und den Niederlanden erreichen.
Für immer gezeichnet
Als eine Reaktion auf den Überfall gründete DFB-Präsident Egidius Braun im Jahr 2000 die "Stiftung Nivel" mit dem Ziel der Erforschung fußballorientierter Gewalt, Präventionsarbeit zu leisten und Opfer von Gewalttaten besser zu unterstützen.
Ein Jahr später wird der "Daniel-Nivel-Cup" aus der Taufe gehoben, der sich zum zweitgrößten europäischen Hobbyfußballturnier entwickelt. Weitere fünf Jahre später ist Daniel Nivel als Ehrengast bei der WM in Deutschland und besucht zusammen mit Braun das Vorrundenspiel gegen Polen in Dortmund. Auch bei der EM 2016 in Frankreich trifft sich der DFB mit dem ehemaligen Gendarmen und erinnert in Person von Ex-Präsident Wolfgang Niersbach: "Es waren Deutsche, die das getan haben, das dürfen wir nie vergessen."
Die Strafen der Täter sind mittlerweile abgesessen, die Männer wieder auf freiem Fuß. Daniel Nivel und seine Familie aber werden für den Rest ihres Lebens an den Folgen leiden. Der Vater zweier Söhne, der nie wieder seinen Beruf ausüben konnte, lag sechs Wochen im Koma. Bis heute kann er nur mühsam sprechen, ist in seiner Bewegungsfähigkeit eingeschränkt und auf einem Auge blind.
Lars Plantholt